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Interview mit Anja Bonelli

Anja Bonelli hatte einen spannenden Werdegang und am Anfang ihrer Karriere einen ganz anderen Weg eingeschlagen, als ihr vorgegeben wurde. Wir haben mit Anja darüber gesprochen, wie sie ihrem Sohn die Weiten der digitalen Welt gezeigt hat und was sie ihrem jüngeren Ich heute raten würde.

„Träume werden sehr wohl Realität – und es ist vielleicht das Schönste am Erwachsensein, dass man diese angehen kann.“

Anja Bonelli

Erzähl uns doch einmal kurz ein paar Sätze über dich und deinen Werdegang.

Mein Name ist Anja Bonelli, ich bin 40 Jahre alt, Mutter eines Sohnes und verantworte seit über 10 Jahren die Softwareentwicklung in internationalen Unternehmen. Meist handelt es sich hierbei um Software, die hilft, Kommunikation zwischen Unternehmen und Endkunden auf verschiedenen digitalen Kanälen zu ermöglichen. In meinen Teams sind Softwareprogrammierer, Designer, Projektleiterinnen – aber auch Anwältinnen und Buchhalter. Über die Softwareprodukte erreichen Unternehmen Menschen in über 42 Ländern. Aber ich war nicht immer Chef und bei weitem nicht so IT-lastig wie heute.
Geboren bin ich in Leipzig und hatte das große Glück, dass ich sowohl die Wiedervereinigung als auch die Gründung der EU erleben durfte. Leider verboten mir meine Eltern während der Schulzeit den Übertritt zum Gymnasium und zwangen mich anschließend in eine Ausbildung zur Bürokauffrau in einer überbetrieblichen Einrichtung. Für mich die falsche Wahl! Mit etwas Glück und Kopf-durch-die-Wand-Taktik konnte ich über ein erstes Betriebspraktikum im Rahmen meiner Ausbildung in einer Lokalredaktion als „Freie Mitarbeiterin“ arbeiten. So tat ich zumindest am späten Nachmittag etwas, was meinen Neigungen entsprach und verdiente noch ein bisschen was dazu. Als mir meine Ausbilderin die Möglichkeit einer vorzeitigen Beendigung der Lehre aufzeigte, war ich sofort dabei und schloss die Lehre sehr gut und mit zusätzlicher Ausbildereignung für kaufmännische Berufe ab. So kam ich fast automatisch in den Genuss der Begabtenförderung des Wirtschaftsministeriums. Zusammen mit einem Empfehlungsschreiben der Redaktion bewarb ich mich als Assistenz und belegte parallel abends Kurse in Journalistik. Denn vorbereitende Buchhaltung und Terminierung von Events war nicht das, was ich mein Leben lang tun wollte – aber der Job gab mir einen tollen Einblick in alle Abläufe eines Unternehmens. Als ich die Möglichkeit eines Abendstudiums ohne Abitur in München entdeckte und die Finanzierung dank Begabtenförderung geklärt war, zog ich mit einem neuen Jobangebot als Marketingassistentin um und legte parallel innerhalb von zwei Jahren mein Diplom ab. Was jetzt nach einer aufregenden Zeit klingen mag, war vor allem eins: Sehr anstrengend, arbeitsintensiv und häufig frustrierend.
Der berufliche Aufstieg gelang und ich arbeitete bereits mit Mitte 20 im mittleren Management eines international tätigen IT-Unternehmens. Ich war in meinem Leben angekommen und mein Glück schien fast unendlich, als ich zu dieser Zeit auch noch Ehefrau und Mutter wurde. Für mich war klar, dass ich für die Familie nicht auf die Karriere verzichten muss und ein Kind beide Eltern zu gleichen Teilen braucht. Mit diesem Bild bin ich im Osten der Republik aufgewachsen und ich hatte einen Partner, der dies ebenso sah und lebte. Umso irritierter war ich – und bin es teilweise heute noch – wenn meine Eigenschaft als Mutter als Hindernis oder sogar Problem wahrgenommen wird. Es gab deshalb einen für mich wirtschaftlich starken Einbruch, welchen ich nur mit eisernem Willen und schlecht bezahlten Teilzeitjobs über einige Jahre ausgleichen konnte. Mittlerweile alleinerziehend und wirtschaftlich halbwegs stabil hatte ich meine erste Idee für eine Software, die binnen weniger Jahre durch die Decke ging. Das ist jetzt 12 Jahre her und seitdem tue ich das, was ich wirklich möchte: Dienende Software entwerfen und zusammen mit meinen Teams entwickeln, die dir und mir hilft den Alltag besser und vor allem einfacher zu bewältigen.

Welche Rolle spielt eine gute Schulbildung für dich?

Erst durch eine gute Schulbildung ist eine umfangreiche Wahl möglich. Die meisten Kinder und Jugendlichen wissen nicht so richtig, ob sie AstronautIn, KinderkrankenpflegerIn, MechatronikerIn oder BundeskanzlerIn werden wollen. Einige der Möglichkeiten fallen ohne Studium leider flach – oder sind nur durch einen sehr hohen persönlichen Aufwand und ja, auch Glück, schaffbar. Leider. Hier wünsche ich mir deutlich mehr Durchlässigkeit. Tatsache ist aber, dass es diese in einer umfangreichen Version nicht gibt, wie die Statistiken immer wieder deutlich aufzeigen. Der einfachste Weg um seine Zukunft so frei als möglich gestalten zu können, ist eine gute und wenn möglich weitergehende Schulbildung.

Glaubst du, dass in Deutschland Abschlüsse immer noch einen übergeordneten Stellenwert haben?

Leider ja. Und ich glaube es nicht, sondern erlebe es noch immer. Trotz 20-jähriger Arbeitserfahrung und umfangreichen Erfolgen in meinem Metier bin ich für manche Personalverantwortliche mit fehlendem MBA oder abgeschlossenem Universitäts-Studium eine nicht geeignete Kandidatin. Wie muss es dann denen gehen, die vielleicht dazu einer weiteren speziellen Zielgruppe angehören und z.B. einen Migrationshintergrund mitbringen? Ich denke, dass an diesem Punkt unglaubliche Ressourcen verschwendet werden und die Tradition vor Sachorientierung steht.

Wenn du unser Bildungssystem anpassen dürftest, was würdest du ändern?

Oh, das könnte radikal werden! Ich fände es gut, wenn Kindern mehr zugetraut werden würde. Wenn Sie in Projekten lernen – und nicht in stundenweise angeordneten Fächern und Noten mit der heute wirklich beschränkten Aussagekraft. Zumindest in den ersten Klassen sollten diese abgeschafft werden. Wenn PädagogInnen nicht nur fachspezifische Ausbildungen mitbringen würden, sondern auch personenspezifische Grundlagen in zum Beispiel Inklusion, Migration oder Hochbegabung. Natürlich gibt es das schon – aber zu punktuell und alles andere als allgemeingültig.  
Aber mein größter Wunsch wäre folgender: Dass stärkenorientiert gelehrt wird – und nicht in erster Linie Defizite herausgestellt werden. Das demotiviert furchtbar und ist meines Erachtens nach einer der Gründe, warum ein kleiner, neugieriger Mensch mit Hunger auf die Welt auf einmal streikt. Würden wir doch auch, wenn uns jeden Tag erneut erklärt wird, was wir alles nicht so gut können, oder?!

Wie können wir uns auf die Digitalisierung vorbereiten bzw. sie in Sachen Schulbildung für uns nutzen?

Ich würde mir wünschen, dass wir nicht nur die reine Technologie schulen würden – sondern auch andere Methoden der Wissensvermittlung verwenden würden. Rein technologiegetriebene Digitalisierung funktioniert schließlich auch nicht im restlichen Leben. Warum nicht agile Methoden und Werte stärker in den Fokus stellen? Die Kinder schon früh ermutigen, selbst Verantwortung zu übernehmen – weit über Referate hinaus?
Ich empfinde die Entwicklungsgeschwindigkeit unseres Schulsystems als nicht ausreichend, vor allem in Bezug auf andere Länder. Echte Sorgen mache ich mir deshalb jedoch nicht. Unsere Kinder sind schnell, die Technologien einfach und die Handhabung immer mehr dem natürlichen Instinkt entsprechend. Jeder kann programmieren lernen. Den Kindern die Freiheit zu geben, dies auszuprobieren – hier sehe ich die Eltern und nicht die Lehrer gefragt.

Welches Startalter für Kinder empfindest du als angemessen im Umgang mit digitalen Medien?

Das kommt sicher ganz auf das Kind und auf die Offenheit und Regeltoleranz zwischen ihm und seinen Eltern an. Traut es sich bei unangenehmen Momenten oder Fragen jeglicher Art sofort zu mir zu kommen? Gibt es Regeln, auf deren Einhaltung ich mich verlassen kann? Und die vielleicht Wichtigste: Hat das Kind andere, analoge Hobbies die einen guten Gegensatz bilden und verhindern, dass es in eine Sucht abrutscht?
Mein Sohn, fast 16 Jahre alt, durfte bereits früh – und mit recht wenig Aufsicht, aber dafür sehr klaren Regeln – umfangreich mit digitalen Medien umgehen. Bereits in der Grundschule habe ich mit ihm einfache Internet of Things-Anwendungen, wie kleine Roboter, programmiert und war mit ihm als vermutlich seltsames Sohn-Mutter-Gespann bei Workshops von z.B. Google. Ich wollte ihm die analoge als auch digitale Welt als einen Raum voller Möglichkeiten zeigen und seine Neugier entfachen. Natürlich ging das ab und zu auch schief. Einmal wurden wir aus einem Café geschmissen, da mein damalig 10-jähriger still und heimlich die dort für Gäste bereitgestellten Tablets virtuell miteinander verband und ein Quatschvideo auf allen gleichzeitig abspielte. An diesem Punkt merkte ich, dass ich parallel voller Scham und gleichzeitig stolz sein kann.
Zu dieser Zeit war ich als Alleinerziehende finanziell nicht sonderlich gut aufgestellt und  deshalb auf der Suche nach machbaren Alternativen. Beeindruckend, wie viele kostenfreie Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche von städtischen und freien Trägern als auch Unternehmen angeboten werden! Neben Programmierkursen gibt es in München die Möglichkeit an klassischen Konzerten kostenfrei teilzunehmen, Sonntags gratis in viele Museen zu gehen, die gefühlt unendlichen Angebote der Bibliothek zu nutzen und vieles, vieles mehr. Nun, bereits mit 13 Jahren hatte er mich in der digitalen Welt in Wissen und Fertigkeiten eingeholt und ist wohl das, was man einen waschechten Nerd mit Sozialkompetenz nennen würde.

Hattest/ Hast du einen Mentor/in?

Ja, und dies war ein großes Glück: Motivator und Wissenstransfer zu Themen, von denen ich wenig Ahnung hatte – zum Beispiel Umgangsformen mit Chefs großer Unternehmungen.

Hat er oder sie dir in beruflichen Fragen weiterhelfen können?

Unbedingt. Zwei der für mich wichtigsten Ratschläge lauteten: „Sei eine Frau und tue nicht so als wärst du ein Mann, das macht dich schwächer.“ Und gerade hilfreich bei akuten Problemen: „Überlege dir, wie groß die aktuelle Herausforderung dich/das Unternehmen in einem Jahr beeinflusst und handle danach in deinen Prioritäten.“

Wir glauben an das Prinzip des lebenslangen Lernens. Welchen Tipp hast du für uns dazu?

Ganz unterschiedliche Medien und auch Werkzeuge zu nutzen und sich in diesen nicht festzulegen: Ob Podcasts oder Hörbücher beim Bügeln, Kanban-Boards (Aufgabenlisten) mit kleinen Lernhäppchen für komplexere Themen, vor denen ich mich sonst gern drücken würde oder Netzwerkveranstaltungen zum ersten Reinschnuppern in ein ganz neues und mir eher unbekanntes Gebiet – es gibt so unglaublich viele Möglichkeiten. Und Ziele. Für 2020 habe ich mir 50 Ziele vorgenommen, viele davon sind letztendlich Lernziele. Schon die Ideenfindung, das Visualisieren, das hübsche Buch, welches gut sichtbar auf meinem Sideboard liegt, motivieren sehr diese Wünsche zu realisieren.

Welchen Rat würdest du deinem 20-jährigen Ich heute geben?

Träume werden sehr wohl Realität – und es ist vielleicht das Schönste am Erwachsensein, dass man diese angehen kann. Und: Liebe Anja, du kannst es dir nicht vorstellen, aber du bist tatsächlich genau richtig so wie du bist.